agrarzeitung: Hat sich Ihr Blick auf die Ernährungssouveränität angesichts des Ukraine-Krieges verändert?
Anne Monika Spallek: Nein, der Erhalt regionaler Wertschöpfungsketten ist mir schon immer ein Anliegen gewesen. Deswegen bin ich bei den Grünen eingetreten. Leider habe ich den Strukturwandel in meiner Heimat im Kreis Coesfeld hautnah miterlebt. Wo früher Handwerksbetriebe, beispielsweise Bäcker und Fleischereien, im Dorfkern angesiedelt waren, ist es jetzt leer. Stattdessen decken nun Discounter und Lebensmitteleinzelhandelsketten außerhalb der Dorfzentren die Nachfrage im ländlichen Raum ab. Für mich ist das nicht nur eine Frage resilienter Versorgungsstrukturen, sondern auch eine soziale und kulturelle Frage: Wollen wir das wirklich so amerikanisiert? Bei den Grünen kämpfen wir dafür, kleine, dezentrale Strukturen zu erhalten.
Gibt es ökonomische Argumente für regionale Wertschöpfungsketten?
Der gesunde Menschenverstand sagt mir doch, dass es am sinnvollsten ist, eine Stadt wie Berlin aus dem Umland zu versorgen. Kurze Lieferketten sind krisensicher und machen unabhängig. Das hat uns bereits die Corona-Pandemie gelehrt, in der Lieferketten über Grenzen hinweg zusammengebrochen sind. Wir wissen nicht, was künftig noch auf uns zukommt. Besonders mit Blick auf den Klimawandel sollten wir uns um Resilienz bemühen und regionale, nachhaltige Versorgungsstrukturen entsprechend fördern.
Wie zum Beispiel?
Es gibt ausreichend finanzielle Mittel, aber diese fließen nicht genug ab und sind nicht zielgerichtet adressiert. Im Jahr 2021 sind von mehr als 1,16 Milliarden Euro, die im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küstenschutz zur Verfügung gestellt worden sind, lediglich 985 Millionen abgeflossen. Deswegen arbeitet das Bundeslandwirtschaftsministerium gemeinsam mit dem Bundeswirtschaftsministerium an einer Überarbeitung entsprechender Förderprogramme. Außerdem wird derzeit die „Zukunftsstrategie ökologischer Landbau“ um die gesamte Wertschöpfungskette inklusive der Verarbeitung erweitert und zu einer Strategie der gesamten Bundesregierung weiterentwickelt. Bis zum Sommer 2023 soll die Strategie stehen.
Es gibt also Angebot, aber keine Nachfrage.
Das liegt aber nicht an fehlendem Interesse, sondern an mangelnder Bekanntheit der Förderangebote und einem hohen bürokratischen Aufwand für Antragsteller, denn gerade in kleineren Betrieben gibt es keine Kapazitäten dafür. Hinzu kommt, dass das Angebot teilweise die Zielgruppe verfehlt. In der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ gibt es eine Klausel, die finanzielle Hilfen für regionale Verarbeitungsbetriebe daran knüpft, dass diese ihre Produkte in einem Radius von 50 Kilometern an ihre Kunden liefern müssen. Das Programm wird derzeit im Bundeswirtschaftsministerium entsprechend reformiert.
Das heißt, auf die Frage, wie wir Fördermittel unter die Leute bringen, müssen wir neue Antworten suchen …
Einerseits, und andererseits müssen wir in die Attraktivität der Ausbildung investieren. In den vergangenen zehn Jahren haben 30 Prozent aller Bäckereien ihr Geschäft geschlossen. 1951 hatten wir noch 18 935 Mühlen in Deutschland. Inzwischen sind es nur noch 185 Handelsmühlen, die mehr als 1000 Tonnen vermahlen. In Mecklenburg-Vorpommern gibt es keine einzige Mühle mehr. Dort, wo diese Strukturen fehlen, geht Know-how verloren und gibt es auch keine Ausbildungsstätten mehr. Und wo kriegt man dann wieder die neuen her?
Gibt es bereits Beispiele für die Rückkehr des regionalen Fleischer- oder Mühlenhandwerks?
Dazu braucht es mehr politische Unterstützung. Oft wurden in der Vergangenheit nur die landwirtschaftliche Erzeugung von Rohstoffen und die Vermarktung adressiert. Die Verarbeitungsstufe, also etwa Mühle und Bäckerei, wurde bei der Zielsetzung „Vom Acker bis zum Teller“ bisher kaum berücksichtigt. Die Existenz von privatwirtschaftlichen Plattformen wie der Regionalwert AG, die Betriebe von der ökologischen Landwirtschaft über die Lebensmittelverarbeitung bis zum Handel und zur Gastronomie finanzieren, oder dem staatlich unterstützten Netzwerk „Ernährungsräte“ zur Ernährungs- und Agrarwende in Städten liefern wertvolle Beiträge. In den staatlich geförderten Öko-Modellregionen liegt ebenfalls die gesamte Wertschöpfungskette im Fokus. Ein weiteres Beispiel ist „House of Foods“ als Institution, die die Gemeinschaftsverpflegung verbessern soll; in Kopenhagen bereits etabliert, ist der Trend jetzt auch in Berlin angekommen. Das Konzept stößt aber hier an seine Grenzen. Als Beispiel: Wer eine Kita mit Bio-Möhren versorgen will, findet niemanden, der diese schält. Deshalb muss jede Ernährungsstrategie die gesamte Wertschöpfungskette betrachten.
Machen das andere Länder besser?
Italien hat einen geringen Konzentrationsgrad. Italiens Agrarmodell beruht auf der einen Seite auf kleinen und mittelgroßen landwirtschaftlichen Betrieben, die sich häufig in Familienbesitz befinden, und auf der anderen Seite auf bekannten und angesehenen großen Markennamen in den Bereichen Teigwaren, Milchprodukte und verpackte Lebensmittel. Diese Betriebe werden von zahlreichen Netzwerken spezialisierter Agrar- und Lebensmittelgenossenschaften und -konsortien unterstützt, die geschaffen wurden, um eine effiziente und robuste Lieferkette zu gewährleisten. Aber es ist auch eine Kulturfrage. Der italienische Konsument stellt traditionellerweise hohe Ansprüche an die Qualität und Regionalität der Lebensmittel. In Frankreich gibt es ein Gesetz, das eine fußläufige Versorgung mit Brot sicherstellt.
Der Export ist heute eine tragende Säule unserer Landwirtschaft und bringt Wertschöpfung in den ländlichen Raum. Wäre es nicht verwerflich, das zu ändern?
Der Export auf den Weltmarkt ist ein Geschäftsmodell, das mit der Industrialisierung der Landwirtschaft und dem Einsatz von chemischen Düngemitteln und Pestiziden kam und Lebensmittel superbillig gemacht hat. Es hat aber auch dazu geführt, dass man sich von Exportmärkten abhängig gemacht hat, die zusammenbrechen können, wie zuletzt mit dem Absatzmarkt von deutschem Schweinefleisch in China. Außerdem haben sinkende Preise die Wegwerfkultur verstärkt, und das wachsende Angebot hat zu einem sehr hohen Dünge- und Pestizideinsatz geführt, der nicht mitexportiert wird und vor Ort die Umwelt belastet. Natürlich sollten wir weiter mit Agrargütern handeln, aber die Rahmenbedingungen müssen sich ändern – und wir brauchen ein Gleichgewicht zwischen regionalen Strukturen und Export. Für gesundes regionales Essen in Kitas, Schulen und Kantinen brauchen wir beispielsweise regionales Obst und Gemüse. Doch der Selbstversorgungsgrad liegt bei Obst aktuell unter 20 Prozent und bei Gemüse knapp bei 36 Prozent. Und wir verlieren im Obstbau aktuell weiter Betriebe und Anbauflächen. Das ist eine dramatische Situation.
INTERVIEW: HENRIKE SCHIRMACHER